Samskaras. Gewohnheiten verstehen, Gewohnheiten ändern

Ein Wort folgt auf das andere. Ich höre mich sprechen, ich fühle meine Wut, ich sehe die Reaktion meines Gegenübers und wie alles immer weiter geht und frage mich schon seit einiger Zeit wie ich eigentlich in diese Situation gekommen bin… Wollte ich mich wirklich so verhalten? Auf keinen Fall, denke ich, nachdem die zugeschlagene Tür im Rahmen zittert, dem ganzen Theater so, Gott sein Dank, ein Ende gesetzt hat und meine Wut langsam verraucht. Aber immerhin tat ich es ja wohl. Oder nicht? Oder war es eher diejenige, die ich mal war, und die sich immer wieder ihren Weg bahnt und rum nervt, wenn ich eigentlich als erwachsene und einigermaßen vernunftbegabte Person handeln will?

Jede Erfahrung die wir machen, jede Handlung die wir vollziehen oder der wir begegnen, hinterlässt Eindrücke in unserem Unterbewusstsein. Diese, in der Vergangenheit geprägten, Eindrücke wirken sich wiederum aus auf unserer jetziges Denken, Fühlen und Handeln. Sie sind wie Spuren auf einer inneren Landkarte, die für uns im Verborgenen liegt, denen wir jedoch trotzdem blind folgen.

Samskaras.

In der traditionellen Yogaphilosphie werden sie auch als Saat beschrieben, die in unserem Geist schlummert und bei den richtigen Witterungsbedingungen (also einem bestimmten Lebensumstand, einer Situation in der ich mich wiederfinde oder auch einfach nur ein bestimmter Gedanke der aufblitzt) aufgeht und Früchte trägt.

B.K.S. Iyengar, einer der großen modernen Yogameister, erklärt sie in seinem Buch ‘Licht fürs Leben’ anhand des Vergleichs unseres Bewusstseins mit dem Bild eines Sees. Wird das Wasser durch eine Störung, z.B. einen fallenden Stein, in Bewegung gebracht, formen die Wellen ganz bestimmte Ausbuchtungen und Hügel auf dem sandigen Grund. Fällt über längere Zeit immer wieder ein Stein an genau der selben Stelle ins Wasser, wird sich die Sandlandschaft am Grunde des Sees immer weiter ausformen. Die Rillen werden sich immer weiter vertiefen, die Hügel werden wachsen.

Ungefähr das Gleiche passiert in unserem Geist. Wird er immer wieder in bestimmter Weise in Bewegung gebracht (im Yoga werden diese Wellen in unserem Bewusstsein auch Vrittis genannt), entstehen auch in ihm bestimmte festgelegte Formen und Wegesysteme, eben sogenannte Samskaras. Das Wasser wird in Zukunft an den bestimmten Stellen des Sees in immer gleichen Strudeln über diese sandigen Erhebungen fließen und mit jedem Darüberstreifen die Hügel immer mehr erweitern und vergrößern und somit festigen. Genauso wird unser Bewusstsein, beeinflußt durch die Samskaras, in immer gleicher Weise reagieren und mit jeder dieser Reaktionen dieselbe bestätigen und verdichten.

Samsakaras sind mehr als einzelne Eindrücke. Vielmehr sind es Eindrücke in einer ganz bestimmten Verbindung mit anderen Eindrücken. Ein ganzes verzweigtes Schienennetz an Eindrücken, die zusammen bestimmte Verhaltensmuster hervorrufen. Wir können sie auch als Prägungen oder Konditionierungen verstehen. Auf eine bestimmte Art gefärbte Reize rufen die immer gleiche bestimmte Art von Reaktionen hervor. Stephen Cope beschreibt sie in ‘Die Weisheit des Yoga’ als “komplizierte Sequenz von Reiz, Auslöser, Reaktion, Aktion und Wiederholung”.

Wie ein Trampelpfad durch unseren Geist, der mit jeder Nutzung größer und breiter wird. Nach jeder neuen Nutzung wird es uns etwas schwerer fallen einen anderen Pfad zu gehen, d.h. auf einen bestimmten Reiz anders (und vielleicht auch angemessener) zu reagieren als sonst; anders zu denken, zu fühlen oder zu handeln. Man könnte auch sagen, ein besonders gut ausgebauter Trampelpfad nimmt uns die Freiheit eine vernünftige Entscheidung über den, der Situation angemessensten, Weg zu treffen. Wir gehen einfach, wie ein müdes Pferd, den immer gleichen bekannten Weg nach Hause.

Wo geht’s raus?

1. Karte anlegen

Als ersten Schritt so einen eingelaufenen blinden Pfad vielleicht irgendwann wieder einmal verlassen zu können, wird von Iyengar seine Kartographierung vorgeschlagen. Wenn wir eine Landkarte besitzen und sie auch lesen können, weil sie von ausreichendem Licht beschienen wird, können wir entscheiden welchen Weg wir nehmen wollen, anstatt uns blind auf den vorgefertigten Spurrillen entlang zu tasten. Und irgendwann können wir uns vielleicht auch mutig durch wildes, unerforschtes Gebiet wagen und einen ganz neuen Weg bahnen.

Also: am Anfang steht das, oft echt mühselige Beobachten meiner Selbst. Wie bin ich hier schon wieder gelandet? Was hat mich hier hin geführt? Welcher Umstand, Satz oder Gedanke hat welches Gefühl in mir ausgelöst, dass ich am Ende der ganzen Reaktionskette hier angekommen bin? Mich z.B. gerade vor der, von mir selbst zugeschlagenen Tür und mir wie ein Rumpelstilzchen die Haare raufend, wiederzufinden.

Oft decken wir Verstrickungen in Samskaras eben erst später auf. Im Zurückblicken. Wenn wir den Verlauf einer Situation oder den Ausgang eines Gesprächs hinterfragen. Manchmal finden wir uns auch in einer bestimmte Stimmung wieder, die wir uns nicht erklären können und machen uns daraufhin auf die Suche. Oft sind es Umstände, die wir ändern wollen. Verhaltensmuster, die wir als unnötig empfinden oder sogar destruktiv.

2. Samskaras reformieren

Dann können wir uns vornehmen, das nächste Mal wachsamer zu sein, eher innezuhalten, uns selbst und dadurch die Situation zu entschleunigen, um uns die nötige Zeit zu verschaffen, bewusst und weise reagieren zu können – in Gedanken, Gefühlen und Taten. Wir können uns neue Handlungsmöglichkeiten überlegen, durch die neue, positivere Samsakaras entstehen könnten. Eine “Samskara-Reformierung”, die leidbringende Samsakaras schwächt und unterstützende Samsakaras stärkt und zur Blüte bringt. Eine Umkonditionierung also. Im karmischen Prinzip von Ursache und Wirkung ganz logisch verdeutlicht: positive Samsakaras rufen auch erfreulichere Konsequenzen hervor als negative.

Das ist der zweite Schritt (der übrings nicht nur im Yoga möglich und üblich ist): negative Gewohnheiten in positive Gewohnheiten umzuwandeln. Im Yoga haben wir bestimmtes Werkzeug zur Verfügung: die ganze Palette an Verhaltensvorschlägen, Atem- und Körperübungen. Ihre Praxis und Kultivierung soll helfen den Geist und das Nervensystem zu klären und zu beruhigen. So haben wir überhaupt erst die Möglichkeit, aufsteigende Wellen im See, d.h. altbekannte Reaktionsmuster schon in ihrem Entstehen erkennen zu können und nicht erst in der Rückschau. Dann können wir auch schon innerhalb einer entsprechenden Situation eingreifen und unsere Reaktion entsteht aufgrund einer wach getroffenen Entscheidung.

Manchmal will ich auch Alarm!

Und wenn ich mal richtig großes Theater will, mit Wut, Türen schlagen und allem Drum und Dran, weiß ich wenigstens in jedem Moment ganz genau warum ich hier und jetzt an diesem Punkt bin.

Noch nicht das Ende…

Im Yoga geht der Weg weiter: werden die positiven Gewohnheiten transformiert in gar keine Gewohnheiten, sind wir ausgestiegen aus dem karmischen Kreislauf von Ursache und Wirkung und können wirklich absolut frei im gegenwärtigen Moment wahrnehmen und handeln, ohne das kleinste Gekräusel auf dem ruhigen See unseres Bewusstseins zu erzeugen. Good luck!

Weiterlesen:

B.K.S. Iyengar: Licht fürs Leben

Stephen Cope: Die Weisheit des Yoga

Rick Hanson: Denken wie ein Buddha